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Geschwisterparadoxon


Folgendes Rätsel gibt es in zahlreichen Varianten:
"Eine Familie habe 2 Kinder. Eines davon ist ein Mädchen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist auch das andere Kind ein Mädchen?"

Dieses Problem wurde und wird in verschiedenen Foren heftig diskutiert und kommt auch in Lehrgängen und Unterrichten zum Einsatz, oft mit kontroversen Diskussionen.

Um das Ganze abkürzend auf den Punkt zu bringen:

Die Formulierung "Eines davon ist ein Mädchen" bedeutet nicht, dass die Kombination Junge-Junge vorher explizit ausgeschlossen wurde. Die Rätselformulierung ist also mehrdeutig, und nur deshalb kommt es zu langen Diskussionen.
Die Mehrdeutigkeit besteht darin, dass nichts darüber ausgesagt wird, wie die Information "eines ist ein Mädchen" zustande gekommen ist.
In der Statistik ist es eine Binsenweisheit, dass Art und Weise, wie Daten bzw. Informationen zustandekommen, die zulässigen Schlussfolgerungen grundlegend mitbestimmen.
Die entscheidende Frage ist hier, ob der Fragesteller ohne vorgegebene Kriterien eine x-beliebige Familie mit 2 Kindern ausgewählt hat, und mindestens eines davon war (zufällig) ein Mädchen, oder ob er so lange gesucht hat, bis er eine Familie vorliegen hatte, die mindestens 1 Mädchen hatte.

Schliesst man also vorher J-J aus, dann ist die Lösung 1/3.

Schliesst man J-J vorher nicht aus, dann ergibt sich 1/2.


Im statistischen Kontext ist die 1/2 Lösung eindeutig zu bevorzugen, da sie keine Annahmen macht, die über die Rätselformulierung hinausgehen: Sie sieht nämlich von einer Selektion zu einem Zeitpunkt vor der Fragestellung ab. 


Auf das Ergebnis 1/3 kann man nur dann kommen, wenn man im Vorhinein dafür sorgt, dass alle J-J Kombinationen eliminiert werden, oder indem man das Rätsel nur dann stellt, wenn man mindestens 1 Mädchen vorliegen hat. Beides sind Manipulationen, die aus der Rätselformulierung so nicht hervor gehen, und die das Rätsel trivial werden lassen.

Eine Information, die für das Rätsel unerheblich ist, ist die Wahrscheinlichkeit eines Paares überhaupt schwanger zu werden. Darauffolgend ergibt sich dann erst die Frage nach dem Geschlecht. Ab einem bestimmten Alter und unter  gewissen Umständen ist die Wahrscheinlichkeit geringer oder höher, dass es zu einer Schwangerschaft kommt. Auch durch die unterschiedlichen Arten der Empfängnisverhütung wird die Wahrscheinlichkeit minimiert. Die Wirksamkeit und Zuverlässigkeit von Verhütungsmethoden wird anhand des Pearl-Index gemessen. Dieser bezieht sich auf 100 Frauen, die ein Verhütungsmittel anwenden. Ein Indexwert von 1 besagt, dass eine Frau im Jahr schwanger wird, obwohl sie das Verhütungsmittel anwendet. Laut dem Pearl-Index liegt die Wirksamkeit der Pille bei 0,1-0,9, das heißt, dass eine bis neun von 1000 Frauen innerhalb eines Jahres trotz Einnahme schwanger werden. Der Index des Kondoms bei 2-12, sprich es werden 2 bis 12 Frauen trotz Anwendung schwanger. Der Index einer Vasektomie liegt bei 0,1, was bedeutet, dass nach einem Vasektomie Eingriff beim Mann bloß statistisch gesehen ein Paar von 1000 innerhalb eines Jahres schwanger wird.

Dieser Exkurs zur Empfängnisverhütung und der Wahrscheinlichkeit einer eintretenden Schwangerschaft würde jedoch in eine andere Richtung führen und ist für das hier dargestellte Rätsel nicht weiter relevant.

Die folgenden Ausführungen sind historisch und daher entbehrlich, werden aber dennoch belassen. 

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Während in einschlägiger Statistikliteratur 1/3 als die richtige Lösung propagiert wird, ist nach Auffassung des Verfassers ½  richtig. 

Der Verfasser ist der Ansicht, dass 1/3 allerhöchstens in einem rein mathematisch abstrakten und dabei trivialen Kontext richtig sein kann, der in der realen Welt keine Entsprechung hat,  

und dass alle Versuche, dieses Rätsel in eine begreifbare Alltagswelt zu übersetzen entweder trivial ausfallen, oder zu 1/2 führen. 


Beispiel für mathematisch Korrektes, aber ohne reale Entsprechung:

"Im Bus sind 2 Leute. 3 steigen aus. Wieviele Leute müssen einsteigen, damit der Bus leer ist? -->Einer."

 

Der Grund für kontroverse Lösungsdiskussionen liegt in der Bedeutung der Aussage "Eines davon ist ein Mädchen", welche sich auf BEIDE Kinder bezieht. Man darf sich also nicht ein Kind "aussuchen", auf das sich diese Information beziehen soll, denn damit würde man zusätzliche, ursprünglich nicht gegebene Information hineinbringen. Dies ist der wesentliche Gedankengang der 1/3 Befürworter.

Als 1/3 Befürworter mag man das Rätsel mit Hilfe des folgenden Gedankenexperiments vollständig und richtig abgebildet sehen:

Gedankenexperiment:

Aus einer grossen Grundgesamtheit, bestehend aus Geschwisterpaaren, wird ein Geschwisterpaar gezogen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen (M) dabei ist, beträgt 3/4, da Geschwisterpaare mit 2 Jungen (JJ) kein Mädchen enthalten. Hat man ein Geschwisterpaar gezogen, und man weiss, dass 1 Mädchen dabei ist, dann kommen dafür nur die Konstellationen MM, MJ und JM in Betracht. Die Kombination MM ist die einzige aus den 3 möglichen Kombinationen, bei welcher das zweite Kind ebenfalls ein Mädchen ist. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass beide Kinder Mädchen sind, NACHDEM bekannt ist, dass eines davon (nicht ein Bestimmtes) ein Mädchen ist, liegt also bei 1/3.

Wenn man sich statt der Geschwisterpaare Münzenpaare denkt, in denen die Münzen wahlweise Kopf (K) oder Zahl (Z) zeigen können, dann wird die Lösung 1/3 angeblich noch klarer: Nimmt man nämlich alle KK-Paare aus der Grundgesamtheit heraus (was der Information „eines ist ein Mädchen“ entspricht), dann hat genau 1/3 der übriggebliebenen Paare die Konstellation ZZ. Alle übriggebliebenen Paare haben nun mindestens ein Z, demnach beträgt die Wahrscheinlichkeit für ZZ genau 1/3.

 

An dieser Stelle sei bereits auf die Anmerkung unter Bertrand's Kästchenparadoxon verwiesen, aus der hervorgeht, dass die zuvor geschilderte Argumentation angezweifelt werden darf.

 

Die Situation

"Eine Familie habe 2 Kinder. Eines davon ist ein Mädchen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist auch das andere Kind ein Mädchen?"

entspricht nach Auffassung des Verfassers nicht den geschilderten Gedankenexperimenten. Das Rätsel kann nämlich nur in 3/4 aller denkbaren Fälle überhaupt so gestellt werden. Klarer wird dies, wenn man das Rätsel ein klein wenig ausschmückt, ohne es mathematisch zu verändern:

"Eine Familie mit 2 Kindern zieht in Nachbar’s Wohnung ein. Eines davon ist ein Mädchen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist auch das andere Kind ein Mädchen?" (Unterschied rot hervorgehoben) 

So richtig greifbar klar wird es, wenn man sich als Mieter eines Hochhauses vorstellt, jede Woche eine Familie mit genau 2 Kindern in eine der Wohnungen einzieht und der Hausverwalter dem Mieter jedesmal die Information 

"eines der Kinder ist ein Junge /Mädchen" gibt. 

Nach der Logik der 1/3 Befürworter würden etwa 2/3 der Familien gemischtgeschlechtliche Kinder haben, und nur 1/3 gleichgeschlechtliche. 

-->Widerspruch! 

 

Bleiben wir aber beim Einzelexperiment. 

 

Es ist klar, dass der Vorgang „Familie zieht in Wohnung ein“ VOR dem Stellen des Rätsels stattgefunden haben muss.

Anders formuliert: Hätte man aus einer Grundgesamtheit ein JJ-Paar gezogen, dann kann man dies nicht einfach ignorieren.

Das Rätsel kann also im Falle JJ nicht in der beschriebenen Form gestellt werden, oder umgekehrt betrachtet hätte man im Falle der Konstellation JJ gefragt: Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist auch das andere Kind ein Junge? 

Zu beachten ist auch, dass man bei den Konstellationen JM und MJ  zwei Möglichkeiten der Fragestellung hat.

Diese Situation entspricht vielmehr dem Vorgang

„Ziehe ein Münzenpaar aus der Grundgesamtheit, und entscheide, wie die Frage gestellt werden kann“, bzw.

"Stelle die Geschlechterkonstellation fest und entscheide, wie die Frage gestellt werden kann".

Einschränkungen oder zusätzliche Informationen können demnach nur NACH dem Ziehen gemacht werden, und diese werden je nach Ziehung nicht immer gleich ausfallen können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bemerkung „eines davon ist ein Mädchen“ keine Einschränkung im Sinne eines real ablaufenden Experiments darstellt, weil sie sich erst nach einer erfolgten Ziehung ergeben kann. Im Hinblick auf die in Nachbar`s Wohnung eingezogene Familie steht die Konstellation schon fest, bevor jemand auf die Idee kommt, das Rätsel überhaupt zu stellen. Hier sind alle Konstellationen JJ, MM, MJ, JM gleich wahrscheinlich, und daran ändert auch eine nachträgliche Feststellung „eines ist ein Mädchen“ nichts, da zu diesem Zeitpunkt die Würfel bereits gefallen sind.

Die folgende Tabelle macht die zuvor geschilderten Gedankengänge deutlich:

Geschwisterparadoxon

 

Siehe hierzu auch unbedingt die Anmerkung unter Bertrand's Kästchenparadoxon

Dieses Paradoxon entspricht nämlich dem Geschwisterproblem.

 

 In vielen Quellen wird dem bisher diskutierten Rätsel eine dem Folgenden entsprechende Variante gegenübergestellt:

"Eine Familie habe 2 Kinder. Das Ältere ist ein Mädchen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist auch das andere Kind ein Mädchen?" (Unterschied rot hervorgehoben).

Nun ist dasjenige Kind, das ein Mädchen sein soll, klar identifiziert- so wird in diversen Quellen zumindest argumentiert. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das andere Kind nun ebenfalls ein Mädchen sein soll, - wird weiterhin argumentiert-, liegt nun bei 1/2.

Zwar wird nun ein Bestimmtes der beiden Kinder als Mädchen ausgewiesen, aber der Aussenstehende weiss ja immer noch nicht, welches das Mädchen sein soll. Für einen Aussenstehenden, der das Rätsel lösen soll, macht es definitiv keinen Unterschied, ob "eines der beiden" oder "das ältere" ein Mädchen ist.

Die Lösung ist hier ebenfalls 1/2, aber nicht mit der Begründung, dass das Mädchen klar identifiziert sei.

Auch hier ist der wahre Grund wieder im realen Ablauf zu suchen:

„Ziehe ein Münzenpaar aus der Grundgesamtheit, und entscheide, wie die Frage gestellt werden kann“, bzw.

"Ziehe ein Geschwisterpaar und ermittle das Geschlecht des Älteren".

Letzte Änderung: 2022-06
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